Die geistige Aufgeschlossenheit

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Die geistige Aufgeschlossenheit
Die Verbindung der Intelligenz mit dem Alltagsleben war im 17. Jahrhundert in Siebenbürgen ein allgemeines Phänomen. Niemand hatte die Möglichkeit oder dachte daran, im Elfenbeinturm der Wissenschaften zu grübeln oder naturwissenschaftliche Versuche durchzuführen. Die hochgebildete Intelligenz blieb daher im engen Kontakt mit den Gläubigen, und daraus ergaben sich viele Vorteile. Da aber eine schöpferische Beschäftigung mit den eigentlichen Wissenschaften nicht möglich war, verblieb unter den siebenbürgischen Zuständen weiterhin die Religion im Mittelpunkt des geistigen Interesses. Wissenschaftlich ausgerichtete Debatten waren mit den religiösen Problemen verknüpft. Die revolutionären wissenschaftlichen Gedanken des 17. Jahrhunderts, die Lehren Descartes’, wurden von János Apáczai Csere, dem Doktor der Theologie an der Universität von Harderwijk auf ungarisch formuliert; sein Werk „Ungarische Enzyklopädie“ war von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der ungarischen Wissenschaften bzw. der Wissenschaftssprache und erschien 1655 in Utrecht.
So läßt sich in der Tätigkeit der Intelligenz die mit dem religiösen Interesse verbundene geistige Aufgeschlossenheit klar verfolgen, aber der Kreis der Rezipienten ist schon viel schwerer zu bestimmen. In einem Punkt läßt sich 352jedoch sicher belegen, daß die Gedanken der großen Geister der Zeit sich über alle Gruppen der Intelligenz hinaus weit verbreitet haben, noch dazu – überraschenderweise – in einer religiösen Gemeinschaft, in der im 17. Jahrhundert die Tätigkeit gebildeter Intellektueller gar nicht mehr typisch war: bei den Sabbatariern.
Diese als Sonderform des Stoizismus im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts entstandene Glaubensrichtung überschritt mit dem 17. Jahrhundert den engen Kreis der geistig und weltlich Hochstehenden und verbreitete sich unter den Ungelehrten und einfachen Volksschichten. Die Grenzen dieser Verbreitung sind sehr schwer festzulegen, da vermutlich viele ihrer Zeugnisse infolge der Verfolgung von 1638 vernichtet wurden. Aber gerade die Härte und ständige Erneuerung der Sabbatariergesetze bezeugen, in wie großem Ausmaß der Sabbatarismus bei den siebenbürgischen Bauern und besonders bei den Szeklern unausrottbar gewesen ist.
Die allen Verfolgungen widerstehende Hartnäckigkeit dieser Sekte bezog ihre geistige Substanz aus dem Stolz, der durch jede Gewalttat gegen sie neu entfacht wurde, sowie aus dem Zorn des sozialen und politischen Widerstandes gegen die etablierte Gesellschaft; wobei als Kraftquelle noch hinzukam, daß der Sabbatarismus eine stark fühlbare kulturelle Lücke ausfüllte, die von der vernachlässigten Volksbildung herrührte.
Die offiziellen Kirchen hatten nämlich ihre Volksbildungsfunktion verloren, die ursprünglich mit der Missionsabsicht verbunden war. Als dann ihre Organisation und Stellung gefestigt waren, wandten sie sich von den untersten Schichten der Gesellschaft ab, weil eine weitergehende Missionierung nur mittels Umwälzung der bestehenden Verhältnisse möglich gewesen wäre. Konsequenterweise verrichtete der zur Herrschaftsreligion gewordene Kalvinismus seit der Jahrhundertwende eine Volksbildungsarbeit nur noch unter den Rumänen, wobei er beinahe schon gewaltsam auf den Gebrauch der rumänischen Muttersprache in den für die Rumänen organisierten Gemeinden bestanden hat. Diese kulturelle Tätigkeit unter den Rumänen war die wohl verdienstvollste Tat der amtlichen siebenbürgischen Kirche, sie kann aber die Gleichgültigkeit gegen die Bedürfnisse der eigenen Gläubigen nicht vergessen machen.
Der Sabbatarismus wiederum, als junge, missionarische Religion, brachte die Volksbildung, die Orientierung über Alltagsdinge, in die Kirchen hinein und nahm zu allem Stellung, was die Gläubigen bewegte. Die Gemeindelieder der Sabbatarier brachten die Glaubensaussagen mit liebevoller Direktheit den Hörern und Sängern nahe.
Diesen Liedern fehlt das Düstere und das ständig vorhandene Schuld-und-Sühne-Motiv der anderen Konfessionen. Der Mensch vermag Gottes Willen, das Gesetz, nicht zu erfüllen, vermag aber aus Gottes Gnade dennoch selig zu werden, und dies ist ein Glaube ohne Wenn und Aber: Die Sabbatarierlieder verkünden das Heil als unbezweifelbare Tatsache für die Gläubigen. In diesem sicheren Glauben betonen sie die Ruhe der „seelischen Fröhlichkeit“ und sprechen von der leiblichen Freude des Sabbats. Eines ihrer Lieder spricht ganz offen davon, ihre Feste seien zum Zweck der Erholung zu feiern.
Diese humanzentrische Sicht erkennt die weltliche Hierarchie an, verkündet aber die große stoische Erkenntnis von der Eitelkeit weltlicher Karriere nun auch dem Volk. In viele handgeschriebene Liederbücher wurde die ursprünglich anabaptistische Strophe eingetragen, man müsse sich in 353Gottes Schöpfungswelt einfügen, weil das Verlangen nach Adel nur Kummer und Leid verursache.
Dennoch ist die weltabgewandte Selbstbildung der Sabbatarier kein Selbstzweck. Sie forscht nach den Naturgeheimnissen und verkündet mit der Ruhe des poetischen Pantheismus Sicherheit in der Welt. Sie lehrt die festen Gesetze der Natur, in deren Normensystem selbst Gottes unberechenbarer, plötzlicher Zorn keinen Platz habe. Die Macht des in der Naturerscheinung verborgenen Gesetzes verkünden die Sabbatarier zugleich mit der Geltung des ptolemäischen Weltbildes. Gott „hat diese Erde in der Mitte aufgehängt“, heißt es in einem Lied, noch mit folgender Argumentation: Der Mensch sieht infolge seiner Unzulänglichkeit nicht, daß die „Himmel“ sich um die Erde drehen. Das widersprach zwar alles dem kopernikanischen sonnenzentrischen Weltbild, doch waren im 17. Jahrhundert noch viele der großen Geister dieser Ansicht.
Für jene Menschen mit erschwertem Zugang zur Bildung war jedoch diese Art der Fragestellung noch wichtiger als die Antwort – sie weckte Interesse. Was der Mensch ständig hört, das beschäftigt ihn, und vermutlich deshalb finden sich in vielen handgeschriebenen Sabbatarier-Liederbüchern Strophen über die Naturgesetze und den Streit um das neue Weltbild. Sie sind Zeugen dafür, welch große gesellschaftliche Aufmerksamkeit das Bemühen der Intelligenz um die Verbreitung der modernen Wissenschaft gefunden hat.

 

 

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