Ungarischer Liberalismus und Ständeverfassung

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454Ungarischer Liberalismus und Ständeverfassung
Der ungarischen Nationalbewegung war es als erste gelungen, das Forum des politischen Lebens zu betreten. Die ungarische Bewegung Siebenbürgens entfaltete sich als organischer Bestandteil der gesamtungarischen Bewegung, jedoch mit spezifischen und somit selbständigen Zügen. In Ungarn war die Basis der liberalen Reformpolitik stärker, ebenso der mittlere Adel, der aufgrund seiner besonderen Lage zur treibenden Kraft der umfassenden gesellschaftlichen und politischen Reform werden konnte und stolz von sich sagte, er spiele dieselbe Rolle wie das Bürgertum, die Mittelklasse in Westeuropa. Diese Schicht war in Relation zu Osteuropa ein ungarisches Spezifikum; ein Pendant mit ähnlich starker innerer Autonomie im Besitz der Munizipalgewalt der Komitate gab es sonst nirgendwo. Das Komitatssystem dezentralisierte zwar das Land, ermöglichte aber eine wirkungsvolle Harmonisierung der gegen die Zentralgewalt gerichteten Bewegung.

Karte 17. Siebenbürgen im Habsburgerreich, 1815–1847
Obwohl der mittlere Adel Siebenbürgens als schwach galt, schloß sich ein erheblich größerer Anteil der hiesigen Magnaten der Reformbewegung an als in Ungarn. Konservative Einflüsterer versuchten, die siebenbürgische Reformbewegung als eine aristokratische Machenschaft zu denunzieren. Das halbe Dutzend Magnaten mit dem größten Grundbesitz war tatsächlich konservativ und mehrheitlich gründlich verschuldet, doch hatten die meisten 455Aristokraten nicht mehr Vermögen als der mittlere Besitzadel in Ungarn. In Vergleich zu diesem aber verfügte der siebenbürgische Hochadel über einen wesentlich stärkeren gesellschaftlichen Einfluß. Starke verwandtschaftliche Bande bestanden zum Mittel- und Kleinadel, den dynamischen Trägern des Komitatslebens. Die Aristokratensöhne hatten in den Hochschulen enge Kontakte zu den Lehrern und zur gesamten Intelligenz. Überhaupt war Bildung zu einer gesellschaftsbildenden Kraft geworden, welche die traditionelle ständische Schichtung untergrub.
Im zeitgenössischen Wortgebrauch tauchte damals keineswegs zufällig die Bezeichnung von der Intelligenz auf, die vor einer großen Karriere stehe. Obwohl im Ansatz bereits vorhanden, war diese soziale Gruppe keineswegs so weit entwickelt wie in Polen und Rußland, wo sie ähnlich der sog. klassischen Intelligenz eine große Rolle spielte, in Siebenbürgen jedoch in eine Randlage abgedrängt wurde. Während die polnische Intelligenz ihre Berufung darin erblickte, die nationale Freiheit als Idee aufrecht zu erhalten, kennzeichnete die russische Intelligenz eine entschiedene Kritik an den bestehenden Verhältnissen, ohne jedoch über eine kontemplative Betrachtung derselben hinauszufinden. Wer jedoch in Siebenbürgen zur Intelligenz gehörte, konnte offen an den Kämpfen für die bürgerliche Umgestaltung teilnehmen.
Das System der ständischen Institutionen sicherte aber im Grunde nur die Möglichkeit zur Initiative, nicht jedoch den Rahmen für eine konsequente Reformpolitik. Der Zentralgewalt in Siebenbürgen gelang es besser, sich das Komitat unterzuordnen als in Ungarn. Das Komitat durfte keine Steuern für seine eigenen Bedürfnisse erlassen, sondern erhielt dafür gewisse Summen von der Regierung. Bei der Neubesetzung der Ämter wählte die Komitatsversammlung drei Kandidaten aus den drei anerkannten Konfessionen, von denen die Zentralgewalt dann den ihr genehmen ernannte. Dennoch ermöglichte die erwähnte Komitatsautonomie einen länger anhaltenden Widerstand gegen die Regierung. Zur Komitatsversammlung erschienen manchmal 3–4000 Adlige. Die Möglichkeit, die leitenden Verwaltungs- und Gerichtsbeamten sowie die Landtagsabgeordneten zu wählen, gewährleistete in den Augen der schreibunkundigen und häufig auch politisch uninformierten Kleinadligen ihren Anspruch, am öffentlichen Leben teilzunehmen.
Die Struktur des Siebenbürger Landtags war für die liberale Reformpolitik formal gesehen noch günstiger als die des ungarischen. In Siebenbürgen gab es keine zwei Kammern, sondern nur ein „Haus“. Die vom Herrscher ernannten Regalisten – mehrheitlich auch jetzt aus den Reihen der Magnaten und (um das Gleichgewicht zu sichern) der Familien des mittleren Adels – bildeten mit den ebenfalls über Stimmrecht verfügenden leitenden Munizipalbeamten und den Mitgliedern des Guberniums (Statthaltereirat) die Mehrheit (mit 200-230 Pers.). Die Initiative lag jedoch in der Hand der von den Komitaten gewählten Deputierten (36 Pers.), primär aufgrund ihres geistigen und moralischen Übergewichtes, vertraten sie doch das „Volk“. Sie konnten leicht die Deputierten der Szekler Stühle sowie der Städte (36-38 Pers.) gewinnen, die Einzelstimmrecht besaßen (während sie in Ungarn zusammen nur über eine Stimme verfügten). Gegebenenfalls konnten sie auch auf die Abgeordneten der sächsischen Stühle (22 Pers.) rechnen, abgesehen davon, daß auch die Regalisten nicht alle konservativ waren.
Die Zentralgewalt hatte seit 1811 keinen Landtag mehr einberufen, obwohl dies nach der Verfassung jährlich hätte geschehen müssen. Mit dieser 456Verfassungsverletzung hatte sich der bürokratische Absolutismus selbst entwaffnet: Die gesamte Adelsgesellschaft ließ sich gegen ihn mobilisieren.
Der liberale Adel unterstützte jene Elemente der bürgerlichen Intelligenz, die das städtische öffentliche Leben und den Zugang zu den Organen der Interessenvertretung demokratisieren wollten, gegen die Cliquenpolitik der Beamtenoligarchie, die um ihre Macht bangte. Auch der Adel mit Grundbesitz lebte überwiegend bereits in der Stadt. So gaben der Stadt Klausenburg gerade ihre Aristokratenpalais einen „hauptstädtischen“ Charakter. Der auf dem Lande steuerfreie Adel war in der Stadt steuerpflichtig, und dadurch wurde der urbane Adel in das städtische Leben integriert, wobei er häufig das Stadtrecht erworben hatte. Die ins Leben gerufene Einrichtung der Kasinos entsprang der politischen Intention, die traditionellen Gegensätze zwischen Adel und Bürgertum durch die Verbreitung der bürgerlichen Lebensform zu überbrücken. Gerade durch die Rolle und das Ansehen des liberalen adligen Flügels in der Stadt wuchs das Prestige der ungarischen Städte gegenüber dem Adel insgesamt.
Ein eigenartiger Dualismus ist für die siebenbürgische Reformbewegung kennzeichnend: Als politisches Programm verlangten die Liberalen nur die Wiederherstellung und Festigung der Ständeverfassung, während sie immer häufiger die Forderung erhoben, die bürgerlichen Freiheitsrechte in Geltung zu setzen. Sie wollten eine Adelsdemokratie, aber nur, um sie zur bürgerlichliberalen Demokratie umzugestalten. Ein gutes Beispiel für die doppelte Physiognomie des ungarischen Liberalismus in Siebenbürgen war Baron Miklós Wesselényi. In den 20er Jahren hatte er noch den Widerstand des Adels gegen die siebenbürgische Urbarialregulierung organisiert, zehn Jahre später war er bereits einer der Führer und Ideologen der Reformopposition Ungarns und spielte eine entscheidende Rolle dabei, die verlangte umfassende Gesellschaftsreform mit den Bestrebungen um eine verfassungsmäßig abgesicherte Selbständigkeit des Landes zu verknüpfen. Er war einer der Initiatoren der sog. Interessenvereinigungspolitik, die Grundherren wie Bauern für die bürgerlich-nationale Umgestaltung zu begeistern suchte. In seinem Buch Balítéletekről (Über Vorurteile – das wegen der Zensur nur im Ausland und zwei Jahre später, nämlich 1833 in Leipzig erscheinen konnte) empfahl er mit einem Radikalismus, der den seiner Zeitgenossen weit hinter sich ließ: Es möge landesweit geregelt werden, unter welchen Voraussetzungen der Untertan seinem Grundherren welche Ablösungssumme für die Hufe zahlen solle, für die er zu Arbeit und Naturalrente verpflichtet war, um dadurch zum freien Menschen, zum freien Besitzer zu werden. Und während er auf dem 1832 einberufenen Preßburger Reichstag bereits im Sinne der Gesellschaftsreform tätig war, vertrat er in Siebenbürgen die sog. oppositionelle Gravaminalpolitik, die – wie schon erwähnt – für die Verletzungen der ständischen Verfassung Wiedergutmachung forderte. Mit der Garantierung der adligen Freiheitsrechte erlangte er besonders im unruhigen Szeklerland eine ungeheure Popularität.
Die ungarischen Liberalen Siebenbürgens fühlten sich gezwungen, sich an ihrer Massenbasis und den Möglichkeiten zu orientieren. Der Straßburger Lehrer Károly Szász, der höchst einfallsreich die historischen und juristischen Argumente der Gravaminalopposition aufzählte, schrieb: „[…] wir können nur stufenweise vorgehen. Wer, die Reihe verlassend, weit vorauseilt, wird die Menge nicht mobilisieren und fällt seiner eigenen unüberlegten Verwegenheit 457zum Opfer. Wer in der Reihe bleibt, vermag, sie zumindest begeisternd, die Schritte seiner Gefährten zu beschleunigen.“*
K. SZÁSZ, Oskolákról (Über die Schule). Nemzeti Társalkodó 1841, 2. Halbj., Nr. 2.
Die Fäden, die von der Aufklärung zum Liberalismus führten, lassen sich im Geistesleben ebensogut beobachten wie die Wende. Der Goethe- und Schillerübersetzer Sándor Bölöni Farkas, der in den 20er Jahren noch der Meinung war, mit der Zusammenstellung der ersten ungarischsprachigen Speisekarte, also der Magyarisierung der Lebensform, könne er „auf das Ganze gesehen mehr tun als mit einer theoretischen Arbeit“*, wurde einige Jahre später gerade mit seinem Reisebericht aus den Vereinigten Staaten einer der populärsten Schriftsteller der Zeit. Bisher hatte Amerika in der Öffentlichkeit Siebenbürgens als Heimat der Religionsfreiheit gegolten, nun wurde es zum „Land der Vernunft“.* Die sachlichen Berichte wirkten wie ein politisches Glaubensbekenntnis und als Beweis dafür, „daß die Freiheit im Menschen nur durch Freiheit und Bildung heranreifen kann“.*
Bölöni Farkas’ Brief an József Gedő. 11. März 1829. Zitiert bei E. JAKAB, Bölöni Farkas Sándor és kora (Sándor Bölöni Farkas und seine Zeit). Keresztény Magvető 1870, 277.
S. BÖLÖNI FARKAS, Utazás Észak-Amerikában (Reise in Nordamerika). Zum Druck vorbereitet und eingeleitet von S. BENKŐ. Bukarest 1966, 274
Aus Bölöni Farkas’ Tagebuch zitiert BENKŐ a. a. O., 51.
Sándor Bölöni Farkas vertrat die radikale und demokratische Richtung des Liberalismus. Nicht zufällig waren in ihr gerade die Unitarier so aktiv. Sie machten zwar nur 10 % der Siebenbürger Ungarn aus, aber ihr entwickeltes Schulnetz verlieh ihnen große gesellschaftliche Mobilität, obgleich der Unitarismus das untere Ende der Hierarchie der anerkannten Konfessionen bildete, weshalb sie bei den Ämterbesetzungen oft benachteiligt wurden. Das Wissen darum und ihre schon fast zum Deismus neigende Theologie förderten ebenfalls ihre Empfänglichkeit für Rationalismus und Liberalismus.
Die Reformierten bildeten den größten und stärksten Teil der Siebenbürger Ungarn. Deshalb setzten die ersten Versuche für eine dem Zeitgeist entsprechende stärkere Demokratisierung des Gemeinwesens gerade bei der Reorganisation der reformierten Kirche ein. Für die Wahl des Konsistoriums erhielt jedes Familienoberhaupt Stimmrecht, und auch Nichtadlige konnten auf dem Wege einer Zweistufenwahl zum Patron gewählt werden. Weil man dabei dem Beispiel der nordamerikanischen Verfassung folgen wollte, war die Regierung sehr in Sorge, die Opposition werde im Falle ihres Sieges Siebenbürgen staatsrechtlich in ihrem Sinne umgestalten.
Auf den Druck der Agitation im öffentlichen Leben Ungarns und als Gegengewicht dazu sah sich die Wiener Regierung im Sommer 1834 gezwungen, den Landtag einzuberufen. Als königlicher Kommissar mit dem Auftrag, den Willen und die Person des Herrschers zu vertreten, war Erzherzog Ferdinand von Este anwesend, der sofort den Hof darauf aufmerksam machte, daß man, sollte der Adel einen Aufstand planen, bald mit einer schrecklichen Empörung der rumänischen Bauernschaft rechnen müsse, was er auch die Opposition wissen ließ. Über die Tagesordnung der Landtagssitzung kam es zu so scharfen Gegensätzen, daß schon von Anfang an die Auflösung des Landtags drohte und auch nicht lange auf sich warten ließ. Die Regierung hielt die gemäßigt liberale, „die doktrinäre liberale Partei“ für gefährlicher als die von Miklós Wesselényi geführten „Radikalen“. Die Öffentlichkeit glaubte, Wesselényi habe die Auflösung damit provoziert, daß 458er eine Buchdruckerei gründete und seine Reden herauszugeben begann. In Wirklichkeit jedoch hatte der Herrscher die Auflösung schon vorher verfügt, und Staatskanzler Metternich, der jede liberale konstitutionelle Bestrebung als Teil einer gesamteuropäischen Verschwörung betrachtete, wollte nun mit einer demonstrativen Vergeltung ein Exempel statuieren. Wen man nur fassen konnte, stellte man vor Gericht, und Wesselényi wurde in beiden „Heimatländern“ angeklagt und auch zu Gefängnis verurteilt. Die siebenbürgische Adelsgesellschaft reagierte vor allem mit passivem Widerstand, bis die Regierung selbst scheinbar nachgab.
1837 wurde der Landtag erneut einberufen, auf dem man einige wichtige Elemente der Ständeverfassung garantierte, vor allem die Wahl der Würdenträger. Beide Seiten vermieden vorerst einen größeren Konflikt, doch war die Opposition auch so der moralische Sieger, als der zum Gubernator vorgeschlagene Erzherzog Ferdinand nur wenige Stimmen bekam und beschämt Siebenbürgen verließ.

 

 

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