Gesellschaftliche Reformbestrebungen und ihre Voraussetzungen

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Gesellschaftliche Reformbestrebungen und ihre Voraussetzungen
Die wichtigste gesellschaftspolitische Reformfrage war die Neuordnung der Urbarialverhältnisse. Diese hatte die Regierung in den 1780er und 1810er Jahren erfolglos zu lösen versucht. Auf der Tagesordnung standen nun Beseitigung der Feudalverhältnisse, Vorbereitung der Bauernbefreiung und Schaffung bürgerlichen Eigentums. Es waren die Rechtsverhältnisse zu klären und u. a. zu entscheiden, welche Böden Allodialcharakter hatten, also reines Grundherreneigentum waren, und welche Urbarialfelder waren, da nach der vorliegenden Konzeption der Bauernbefreiung letztere dann in das Eigentum des zum freien Bürger aufgestiegenen Bauern übergehen sollten.
Um die Urbarialregulierung drohte jedoch eine schwere politische und wirtschaftliche Krise auszubrechen, weil eine solche die bisherigen Enteignungsstrategien der bäuerlichen Überschußproduktion gefährdete, wofür sich bislang Bauer, Grundherr und Staat mit- und gegeneinander verbündet hatten. Die Masse des siebenbürgischen Adels fürchtete sich vor jeder Urbarialregulierung. Die Bauern hatten nämlich beinahe die Hälfte aller bewirtschafteten Felder vor der staatlichen Steuer geheimgehalten. Wenn es nun zur Urbarialregulierung kam, mußte diesem Zustand ein Ende gemacht werden, und es erhob sich die Frage, wem denn diese Böden nun gehörten? Dem, der sie bisher bewirtschaftet hatte? Das bedeutete eine so große Steuererhöhung, daß man zur Existenzerhaltung die Dienstleistungen für die Grundherren reduzieren mußte. Würde aber auch dem Grundherrn ein 462Anteil zugesprochen werden, vergiftete sich das schlechte Verhältnis zwischen Herrn und Bauer noch mehr. Andererseits verzichtete kein Grundherr gerne auf Boden, der ihm nach feudaler Rechtsauffassung ohnehin zustand. So war das „Durcheinander der Gefühle“ sehr wohl verständlich. Anders als in Ungarn galt in Siebenbürgen nicht die Größe des grundherrlichen Bodens, sondern die Zahl der abhängigen Bauern als Maßstab des Reichtums. Andererseits wußte man sehr wohl, daß Lohnarbeit und sogar anteilsmäßige Verpachtung wirtschaftlicher waren als die Fronarbeit der Bauern. Doch stand dem der drückende Geldmangel entgegen, höchstens die Weingärten wurden in Lohnarbeit bestellt. Um die Bauern auf anteilige Dienstleistung oder Bodenpacht beschränken zu können, mußte der Grundherr möglichst viel Boden – sinnvollerweise auch Wald und Weide – in die Hand bekommen, damit er seine Herrschaft über die Dorfwelt aufrecht erhalten konnte. Allerdings mußte er dann das gesamte System der eigenen Bewirtschaftung ändern. Die wenigen hundert Morgen Acker des Grundherrn verteilten sich oft auf mehrere Dutzend Parzellen in der Zwei- oder Dreifelderwirtschaft der Dorfflur. Jedermann mußte zulassen, daß die brachliegenden Felder dem Dorf und dem Grundherrn als Weide dienten. Denn die Brache sicherte die Viehhaltung, während die Felderaufteilung in schmale Streifen die Mehrheit darüber beruhigte, daß jeder den gleichen Anteil an den qualitativ unterschiedlichen Böden erhielt bzw. bei einem Hagelschlag im einen Teil der Flur aus seinen übrigen Feldern immer noch Nutzen zog. Das Unterdrückungssystem war so allgemein geworden, daß immer noch 40 % der Äcker brachlagen. Dieses System behinderte jede Einzelinitiative, bot aber dennoch eine Existenzgarantie. Weil aber ein relativ hohes Bevölkerungswachstum entstanden war (1786/87–1850 jährlich 0,45 %, zwischen 1820–1850 ca. 1 %), verurteilte dieses System sozioökonomischer Unterdrückung die siebenbürgische Gesellschaft faktisch zur Stagnation. Ein Ausweg ergab sich allein durch Bebauung der Brache, aber nur dann, wenn die Umstellung auf Stallviehhaltung gelingen sollte, die nur durch eine reichliche Futtermittelproduktion gewährleistet werden konnte.
Eine Vorreiterrolle bei der Modernisierung der Landwirtschaft konnten allein die sächsischen Kleinbesitzer und die ungarischen Großgrund- und Mittelbesitzer übernehmen. Bei den Sachsen hatte sich der Feudalismus in der Welt der Dorfgemeinschaften nicht entwickelt, so daß der Übergang weniger konfliktreich zu werden versprach als dort, wo die adlige Grundherrschaft dominierte.
Der erste Modernisierungsschritt mußte in einer Flurbereinigung (Zusammenfassung wie Vergrößerung der parzellierten Böden) bestehen. Das stieß aber auf den Widerstand des Dorfes, weil in diesem der Eindruck entstand, als wollte der Grundherr seine Hand auf die besten Felder legen und auch das Weidegebiet einschränken. Doch erwiesen sich die traditionellen Wirtschaftsformen ebenfalls als unhaltbar. Der Adel hatte das Gefühl, daß „der Grundherr nicht einmal den vierten Teil des Nutzens aus seiner Wirtschaft zieht“ und parallel dazu – trotz eines viele Gegensätze überbrückenden patriarchalischen Verhältnisses – „nicht mehr Pfleger, sondern Erpresser seiner Untertanen ist“.* Der Grundherr besteuerte jeden Ertrag der 463Bauernwirtschaft – außer der Getreideproduktion auch Flechterei und Weberei, Geflügelhaltung und selbst die Sammeltätigkeit im Wald – durch die Forderung zunehmend anachronistisch gewordener Abgabeleistungen, was die uralte bäuerliche Autarkie determinierte.
Der Vertrag von Julianna Sombory und Mihály Ketzeli gegen die Schnapsbrennerei, Kackó, 6. Febr. 1841, OL; Archiv der Familie Hatfaludy. Fasz. 37.
Ein großer Teil der Grundherrschaften waren Steuer-, genauer renteneinnahmeberechtigt. Man versuchte, die Forderung der Selbstversorgung mit den Möglichkeiten der Warenproduktion zu vereinbaren, wenn auch die Zeitgenossen ständig darüber klagten, daß die schnellen Preisschwankungen und die geringe Aufnahmefähigkeit des Marktes eine Warenproduktion verhinderten. Aber die siebenbürgischen gutswirtschaftlichen Äcker und Wiesen waren relativ umfangreich, ca. ein Fünftel der Gesamtfläche und etwa die Hälfte der von den Bauern genutzten Böden (die nach 1848 als Urbarialböden galten). Nach damaligen Schätzungen stammte mehr als ein Drittel der die Volksnahrung liefernden Maisernte von den steuerfreien Böden des Adels. Die Urbarialbauern leisteten in erster Linie Fronarbeit, jährlich ca. 18 Millionen Tage, zu 59 % aus Handdiensten und der Rest aus Spanndiensten bestehend. Jede Familie diente 2–4 Tage pro Woche teils nach Größe und Viehbestand der Bauernwirtschaft, teils dem Gewohnheitsrecht entsprechend. In Siebenbürgen war der Boden der Gutswirtschaft kleiner als in Ungarn, kleiner war auch die Zahl der Felder eines Urbarialbauern – der Frondienst aber fast doppelt so hoch. Die Zeitgenossen erklärten dies alles mit den stiefmütterlicheren Natur- und Wirtschaftsgegebenheiten. Es ist wahr, daß unsere Quelle zur Schätzung der Frontage, die Konskription von 1819/20, übertreibt. Die Bauern gaben weniger Acker an, damit die Steuern nicht sprunghaft anstiegen, und übertrieben zugleich ihre Dienstleistungen. Der Konskriptionsplan versprach den Bauern eine Verringerung der Fronlasten, wogegen der Grundherr das bereits bestehende Niveau der Frondienstleistungen beibehalten wollte. Für ihn war die Fronverpflichtung eine Machtquelle: Er wollte nach seinem Gefallen über die Arbeitskraft seiner Bauern verfügen, und wenn so viel Fronarbeit nicht benötigt wurde, konnte er seine Macht mittels Fronermäßigung ausüben.
Wie jeder Feudalgesellschaft, so drückte auch der siebenbürgischen die Gewalt ihren Stempel auf, wobei allerdings die Grenze der Ausbeutung von der Rückständigkeit bestimmt wurde. Der Bauer konnte seine Freizügigkeit ausnützen, und einen gewissen Schutz boten zudem die Feiertage. Die griechisch-orthodoxe Kirche verlangte von ihren Gläubigen 100 Festtage, an denen man nicht für sich selbst arbeitete, sondern höchstens Lohnarbeit annahm, weil dem Bauernglauben nach der jeweils mit Arbeit beleidigte Heilige sich ohnehin am Grundherrn rächen würden. Zu einem Grabenkrieg zwischen Grundherrn und Bauern kam es dort, wo ersterer seine Hand auf einen Wald oder eine Weide, seltener auf Acker legte, die auch das Dorf beanspruchte. Insgesamt war das System funktionsfähig, aber wirtschaftlich gesehen motivierten die durch relative Übervölkerung ausgelöste Krise sowie das Beispiel der europäischen Entwicklung zu Veränderungen.
Für eine Modernisierung gab es nur beschränkte Möglichkeiten, in Gestalt kleinerer technischer Innovationen, der Einführung neuer Kulturpflanzen und Tierarten, worin die Gutswirtschaften vorangehen konnten. Der ungarische und rumänische Bauernadel mit seinem Kleinbesitz und der Bauernbürger im Sachsenland konnten sich höchstens mit Fleiß und Routine 464helfen, der untertänige Bauer manchmal damit, daß er von dem besser geratenen Getreide des Grundherrn etwas stahl.
Zwischen Weltanschauung und Wirtschaftsform gibt es keine direkte Verbindung. In den im Interesse der Modernisierung gegründeten Siebenbürgischen Wirtschaftsverein traten Liberale ebenso ein wie Konservative. Natürlich war jeder Liberale ein Vertreter der modernen Warenproduktion, was sich nicht von jedem Konservativen sagen ließ. Die primäre gruppenbildende Kraft war die Ideologie, das Verhältnis zur bürgerlich-nationalen Umgestaltung. Der Anspruch auf die bürgerliche Nation verband sich von Anfang an mit der Forderung nach sozialer Billigkeit. Die Liberalen betonten die Notwendigkeit eines lebensfähigen Kleinbesitzes, der zugleich die Existenz des sich modernisierenden Latifundiums sichern konnte; die Bauernbefreiung sicherte die Sympathie des Landvolkes, die bürgerliche Verfassungsmäßigkeit die Perspektive für einen Anschluß an die europäische Entwicklung.
Der radikalere Flügel der Liberalen Siebenbürgens orientierte sich stark am politischen und geistigen Leben Ungarns, zumal seine Mitglieder zum Teil aus Ungarn stammten, wenn sie auch in Siebenbürgen Güter besaßen; sie waren sog. Emissäre, von denen einige auch als Abgeordnete am Landtag teilnahmen. Zuerst jedoch brachten sie die ungarische Presse Siebenbürgens zu neuem Leben, und wie Kossuth das Pesti Hirlap zur Waffe der oppositionellen Agitation machte, schuf diese zweite Oppositionsgeneration die moderne siebenbürgische Journalistik. Ständig berief man sich auf die Forderungen der europäischen Entwicklung mit dem Motto: „Urbar sofort, Union sobald als möglich“. Vergeblich aber verbreiteten sie taktisch geschickt die Parole, die Regierung wolle „den Fortschritt“. (Teils warteten sie selbst darauf, teils gedachten sie damit die mit der Regierung verbundenen Konservativen zu entwaffnen.) Die Zentralregierung in Wien wollte aber kein Bündnis mit den Liberalen und war dafür zu keinen Zugeständnissen bereit, um nicht die Mehrheit des Adels und die Möglichkeit zur Manipulierung der Bauernschaft zu verlieren.
Die Urbarialregulierung benötigte längere Vorbereitungen. Die Liberalen wünschten mehrheitlich eine alle wesentlichen Fragen umfassende, detaillierte gesetzliche Regelung, sie wollten die Urbarialverhältnisse zugleich mit der Einführung der Flurbereinigung und der Reform des Steuersystems durchführen. Aber selbst die Planungen für die Regelung brauchten zwei Jahrzehnte. Diese Verzögerungen waren durch die ungeordneten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt, ungeachtet dessen, daß die Initiative ein gewaltiges Risiko darstellte, weil aus der Urbarialregulierung im vorliegenden Fall – durch die Steuerzunahme – die Staatsmacht den größten Profit zog.
Um der Gesellschaft die Verfügung über die Staatseinnahmen zu ermöglichen, wollten die Liberalen dem Landtag das Steuervorschlagsrecht sichern und den gesamten Adel zur Zahlung der Komitatsverwaltungskosten verpflichten – eine Aufgabe, die ihre Kraft vorerst noch überstieg. Deshalb gingen die Liberalen zur Taktik der sog. Auswahl-Gesetzgebung (per excerpta) über, beschlossen also nur Gesetze in Einzelfragen, um – wie man es damals nannte – „mittels Aussprechen des Prinzips“ das Verlangen nach bürgerlicher Umgestaltung zu artikulieren und die Richtung für die zukünftige Gesetzgebungsarbeit festzulegen. Dennoch wiegelten die Konservativen 465den Kleinadel an vielen Orten auch weiterhin gegen die Liberalen auf, die aber angesehen und geschickt genug waren, den Verlust ihrer Mandate zu verhindern. In der Sprachenfrage gab es zwar ernste Gegensätze mit den Sachsen, doch gelang es, auf dem Gebiet der Gesellschaftsreform zusammenzuarbeiten.
Der Landtag legte somit in Wien Gesetzesvorschläge vor, die durch Durchsetzung der Forderung nach Rechtsgleichheit eine Bresche in die Mauer der feudalen Rechtsverhältnisse zu schlagen versuchten. Man bestätigte die Umzugsfreiheit der Leibeigenen, legte die Obergrenze der Dienstleistungen fest und sicherte den Leibeigenen das Recht zum Besitzerwerb. Man bestimmte die Teilnahme des Besitzadels an den öffentlichen Arbeiten, um so die Verteilung der öffentlichen Lasten vorzubereiten. Man suchte Fortschritte bei Fragen zu erreichen, die der ungarische Landtag gleichfalls noch nicht gesetzlich geregelt hatte – wie die der Gubernialratswürden Nichtadliger –, um Präzedenzfälle zu schaffen und zugleich die Vereinigung Ungarns mit Siebenbürgen mittels Herbeiführung ähnlicher Rechtsverhältnisse vorzubereiten. Gleichzeitig wollte man die Unionsbedingungen durch Verhandlungen der Landtage „beider Schwesterländer“ festlegen, und von diesen hing es ab, welche Elemente der Selbständigkeit Siebenbürgen als Provinz behalten sollte.
Siebenbürgens Modernisierung war auch für Ungarn eine Lebensnotwendigkeit. Deshalb berief sich die ungarische Reformopposition – wie auch Kossuth selbst im Pesti Napló (Pester Tagebuch) – gern darauf, der von vielen als rückständig bezeichnete Adel Siebenbürgens sei dabei, dem des Mutterlandes zuvorzukommen. Die Übertreibung und der Hintersinn solcher Bemerkungen lassen sich nicht bestreiten, dennoch schätzten sie die Leistung ganz realistisch ein: „Siebenbürgens Fortschreiten auf dem Pfade der Reform in seinem momentanen staatsrechtlichen Zustand ist mit viel mehr natürlichen Hindernissen verbunden als bei uns, folglich kommt dort jedem Schritt ein größeres Verdienst zu“.*
L. KOSSUTH, Szózat a Részek és az Unió iránt Magyarhonból (Proklamation an das Partium und die Union aus Ungarn). Erdélyi Híradó, 22. März 1842, Nr. 23.

 

 

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