Die wirtschaftliche Rolle des Staates

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Die wirtschaftliche Rolle des Staates
Die mehr als 50 Jahre umfassende Periode war insgesamt durch eine liberale Wirtschaftspolitik charakterisiert, die bis in die 80er Jahre die Vorstellungen des freien Wettbewerbs, des freien Handels und der freien Wirtschaft auch für die Entwicklung des mit Ungarn in Interessenidentität stehenden Siebenbürgens für die geeignetesten hielt. Man versuchte die Entfaltung kapitalistischer Produktion nicht durch direkte Einmischung, sondern durch die Beseitigung der inneren und äußeren Hemmnisse zu fördern.
Zwischen wirtschaftspolitischer Praxis und Theorie ergaben sich jedoch Widersprüche. 1850 beseitigte der Neoabsolutismus die jahrhundertelange Zollgrenze zwischen der ungarischen und der österreichischen Reichshälfte. In erster Linie zur Förderung der Industrieinteressen der österreichisch-böhmischen Provinzen schuf die Zentralregierung 1854 den Schutzzolltarif, den die damaligen Ökonomen als für die ungarische Industrie und Landwirtschaft zu wenig liberal betrachteten. Ein weit größeres Problem bedeuteten jedoch die instabile Regierung und das für den Kreditbedarf der östlichen Provinzen zu geringe österreichische Kapital, während das System des Neoabsolutismus nicht in der Lage war, ausreichende politische Garantien für die Förderung eines erhöhten Kapitalimports aus dem Westen anzubieten.
Nach 1867 trat in der wirtschaftlichen Entwicklung Siebenbürgens eine Wende ein. Mit dem Ausgleich begann die selbständige ungarische Regierung unter Ausnutzung der verbesserten Möglichkeiten in der sich konsolidierenden Monarchie eine Wirtschaftspolitik, die die besonderen Interessen des Landes im Blick behielt. Mit der Einführung der liberalen Konstitution schuf sie auch die politisch-ideologischen Garantien für den umfangreichen Kapitalimport aus dem Ausland. Sie ließ selbst einen Teil des Eisenbahnnetzes des Landes ausbauen, unterstützte die moderne Kreditorganisation, die 566Fachausbildung, die Einrichtung von Mustergütern, spielte auch selbst als Unternehmer eine bedeutende Rolle und regelte mit ihrer Gesetzgebung detailliert die kapitalistischen Produktionsverhältnisse.
Das durch den Neoabsolutismus wirtschaftlich und durch den Ausgleich auch politisch mit Siebenbürgen vereinigte Ungarn konnte unter Leitung der Pester Regierung gegen das industrielle Übergewicht des westlichen Zentrums der Monarchie auftreten. Die Tatsache, daß zwei Länder mit abweichender Wirtschaftsstruktur ein Zollgebiet bildeten, wurde in den führenden Kreisen Österreichs und Ungarns sowie in den Handelsbeziehungen der Monarchie mit ihren Nachbarn Ursache vieler Gegensätze. Österreich-Ungarn mußte seine gemeinsame Zollpolitik bis zum Schluß aufgrund von Kompromissen gestalten, die auch Siebenbürgen unmittelbar berührten, wie das Beispiel seiner Wirtschaftsbeziehungen zu Rumänien zeigt.
In den rumänischen Fürstentümern hatten die Industrieerzeugnisse der Habsburger Monarchie, die siebenbürgischen Handwerker und Händler stets günstige Absatzgebiete vorgefunden, während von dort wiederum Lebensmittel und landwirtschaftliche Rohprodukte importiert wurden, letztere vor allem zu Gewerbezwecken in Südsiebenbürgen. Seit den 50er Jahren jedoch war das traditionelle siebenbürgische Handwerk zu Hause der stärker werdenden Konkurrenz der Ersatzerzeugnisse der österreichisch-böhmischen Fabrikindustrie ausgesetzt, außerhalb der Karpaten-Staatsgrenze wiederum der Flut der auf dem Seewege äußerst billig transportierten englischen und französischen Waren. Einen Ausweg aus der langanhaltenden Krise suchten Handel und Handwerk in Siebenbürgen zunächst vermittels erhöhter Ausfuhren, wobei man die Staatsmacht dahingehend zu beeinflussen suchte, durch ihr Eingreifen wiederum eine privilegierte Stellung zu erreichen. Auf Drängen von siebenbürgischen Industriellen- und Händlerkreisen bemühte sich der Handelsminister bereits 1869 um den Abschluß eines Abkommens mit Rumänien.
1875 schloß die Monarchie mit dem sich formell noch in türkischer Abhängigkeit befindlichen Rumänien ein für zehn Jahre geltendes Handelsabkommen mit Freihandelscharakter ab, sie nahm damit als erste Großmacht die internationale Anerkennung der Selbständigkeit Rumäniens vor. Für diese wertvolle politische Geste mußte Rumänien wirtschaftliche Gegendienste leisten. Während es sein Getreide zollfrei auf den Markt der Monarchie einführen konnte, wurden die Viehzölle bereits abhängig davon festgelegt, wie Deutschland den Viehexport Österreich-Ungarns verzollte. Bukarest mußte seine Protektionsbestrebungen der eigenen Industrie teilweise zurücknehmen und den Industrieerzeugnissen der Monarchie praktisch freien Zugang gewähren. Innerhalb von fünf Jahren verdreifachte sich die Ausfuhr der Monarchie, während die ursprünglich erwartete, noch dynamischere Steigerung der rumänischen Einfuhr allerdings ausblieb. Deutschland schloß nämlich seine Grenzen sehr bald vor dem Vieh aus Österreich-Ungarn, so daß letzteres ab 1877 (ebenfalls veterinärmedizinische Gründe vorschützend) die russische und rumänische Einfuhr einschränkte. Ab 1882 wurde der Rinderimport völlig verboten, während Schafe und Schweine nur zeitweise eingeführt werden durften. Nach Ablauf des Handelsvertrages entzog Rumänien den österreichisch-ungarischen Produkten die Vergünstigungen, worauf die Monarchie mit „Kampfzöllen” (30 %) auf die Einfuhren aus Rumänien reagierte.
567Der von 1886 bis 1893 dauernde Zollkrieg verringerte die Einfuhren aus Rumänien bis auf ein Minimum. Doch auch die Monarchie mußte einen hohen Preis zahlen: ihre Ausfuhren nach Rumänien gingen zurück, sie verlor ihre Monopolstellung. Die Hersteller der siebenbürgischen Industrieerzeugnisse (neben Holz und Holzwaren vor allem Textilien, Lederwaren, Töpferwaren und Glas) mit ihrem relativ niedrigen Verarbeitungsgrad und überwiegend für den allgemeinen Konsum bestimmt, litten am meisten unter den Veränderungen. „Wir wußten, daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir mit unseren Industrieerzeugnissen total verdrängt werden. Doch wegen des gescheiterten Handelsvertrages mit Rumänien ist dieser Schlag viel eher eingetreten, als wir uns das vorgestellt hatten” – schrieb der Gewerbeverein von Szekler Neumarkt.*
Adresse vom 15. Juni 1886. OL Földművelés-, ipar- és kereskedelemügyi minisztérium (FIK) iratai (Schriften des Landwirtschafts-, Industrie- und Handelsministeriums). 1886. 38. t. 32 255.
Der Siebenbürgische Wirtschaftsverein erarbeitete auf seiner Wirtschaftsberatung vom Jahre 1886 ein (sächsisch-ungarisches) Programm für die Überbrückung der Schwierigkeiten, in das die Forderung nach Staatsaufträgen und Vergünstigungen ebenso wie der Ausbau von Genossenschaften und die Entwicklung des Eisenbahnnetzes aufgenommen wurden. Die Regierung startete eine Hilfsaktion in Form staatlicher Aufträge für Betriebe und Handwerker im Grenzgebiet. Man suchte auch nach neuen Märkten in der Bukowina, in Bulgarien und teilweise sogar innerhalb der Monarchie. Die Maßnahmen wurden durch Tarifvergünstigungen und Steuerermäßigungen ergänzt.
Der Zollkrieg beschleunigte die Vernichtung einzelner traditioneller Handwerkszweige. Ein neuer Handelsvertrag im Jahre 1893 regelte die Beziehungen von neuem, die österreichische Fabrikindustrie und gemeinsam mit ihr auch einige zu Mittelbetrieben angewachsene, Qualitätswaren anbietende sächsische Textilfabriken Südsiebenbürgens vermochten zum Teil ihre Märkte in Rumänien zurückzuerobern. Gleiches gelang jedoch dem siebenbürgischen Kleingewerbe und der Heimindustrie nicht mehr.
Bereits seit den 80er Jahren unterstützte der Staat die Industrie mit Steuervergünstigungen und zinsfreien Krediten. Dann ging man stufenweise zur Gewährung von Subventionen über. Ab 1907 konnte die Regierung tatsächlich bedeutende Summen für die Industrieentwicklung einsetzen, aus denen auch die Fabriken und Handwerker Siebenbürgens (vor allem um Kronstadt) ohne nationalen Unterschied Unterstützung erhielten.
Bei der Entwicklung der Agrarproduktion Siebenbürgens übernahm der Staat – trotz seiner damals eingeschränkten Möglichkeiten – eine wichtige Aufgabe. Neben der weniger spektakulären Alltagsarbeit bei der Einrichtung bzw. Verbreitung von Mustergütern, Zuchtanlagen, Rassenveredlung und Fachunterricht sind die Auswirkungen der Agrarpolitik bekannter. Regierungspolitiker aus der Schicht der Gutsbesitzer monopolisierten im Interesse der Sicherung höherer Agrareinkommen seit der Jahrhundertwende den Markt der Monarchie durch eine Reihe von Schutzzollmaßnahmen für die Produzenten im ungarischen Staat, zum Teil auch in Galizien. Durch die Abriegelung vom Weltmarkt mit seinem preissenkenden Einfluß erreichte diese Schicht den angestrebten Preisanstieg, und zwar nach 1906 durch die Agrar-Monopolzölle im Ausmaß einer etwa 30prozentigen Preiserhöhung. 568Der Landwirtschaft Siebenbürgens mit ihrem niedrigen Entwicklungsstand wurde gerade dadurch eine rentable Produktion und ihre Fortentwicklung ermöglicht. Die höher qualifizierten Sachsen mit ihrem somit günstigeren Start führte das Schutzzollsystem auf die höchste, Transdanubien vergleichbare Entwicklungsstufe und den breiteren ungarischen und rumänischen Bauernschichten garantierte es immer noch ein sicheres Auskommen, gemessen an den osteuropäischen Verhältnissen.
Eine staatliche Sozialpolitik für die Bauernschaft begann sich auf dem Umweg über Aktionen zur Verringerung regionaler Notstände, über gelegentliche Steuernachlässe und kleine Unterstützungen zu entwickeln, somit noch im Rahmen des wirtschaftlichen Liberalismus. Die erste größere Aktion dieser Art betraf 44 (einstige rumänische Grenzer-) Gemeinden im Nösnerland und bestand in der Sanierung ihrer wirtschaftlichen Lage mit staatlichen Mitteln. Aus dem Gemeinbesitz dieser Dörfer führte der Staat ab 1890 mehr als 200 000 Morgen Wald durch die neugeschaffene Forstverwaltung in Bistritz einer fachgerechten Bewirtschaftung zu, er baute Eisenbahnstrecken, richtete Muster-Schäfereien und Milchviehanlagen ein und befreite die Gemeinden von den angehäuften Steuerschulden. Die Bewirtschaftung wurde von Vertretern der Gemeinden kontrolliert, und der jährliche Reingewinn von mehreren hunderttausend Kronen wurde für – teilweise kulturelle – Zwecke der Gemeinden verwendet, während diese weitere 60 000 Morgen nach eigenen Vorstellungen nutzten. Die Aktion trug (ähnlich wie in Karansebesch) zur Neubelebung der abgesonderten kleinen rumänischen Welt im Nösnerland bei.
Nicht im entferntesten allerdings konnte der Staat ein wirkliches Ergebnis bei der Beseitigung des schweren Problems der Zeit, der Klärung der Szeklerfrage, aufweisen. Bauernbefreiung und Beseitigung der Militärgrenze hatten im Szeklergebiet die Menschen massenweise zu Häuslern gemacht. Aufgrund des Schrumpfungsprozesses der gemeinsamen Felder wurden die Ärmeren sowohl in der Viehhaltung als auch bei der Holzgewinnung zu einem Zeitpunkt eingeschränkt, als noch keine, ein neues Gleichgewicht sichernde Beschäftigungsalternative gegeben war. Die negativen Einflüsse der kapitalistischen Entwicklung traten hier ganz geballt in Erscheinung. Das Kleingewerbe des Szeklergebiets stand unter dem Konkurrenzdruck der Fabrikerzeugnisse, zumal nach dem Ausbau der Haupteisenbahnstrecken. Der 1886 beginnende rumänische Zollkrieg beschleunigte diesen Prozeß und führte mit der Vernichtung kleiner Existenzen zu einem tiefgreifenden Umbruch der Lebensbedingungen und -verhältnisse.
Die Auswanderungswelle, die Arbeitssuche in Rumänien, der häufige dortige Verbleib lenkten die Aufmerksamkeit der ungarischen Öffentlichkeit auf die Probleme der Szekler. Um die Jahrhundertwende versuchte man Szekler Fuhrleute, Knechte und Dienstmägde im Landesinneren unterzubringen. Das Handelsministerium startete zugleich eine „Szekler Industrie-Aktion” für eine bescheidene Unterstützung der Heimindustrie, des Handwerks und der Gewerbeausbildung.
Der Szekler Kongreß 1902 in Tuschnad, den die Regierung und die Opposition gemeinsam veranstalteten, unterstrich, daß die Probleme durch staatliche Intervention zu beseitigen seien. Im gleichen Jahr wurde eine Hilfsaktion zur Entwicklung der vier Szekler Komitate eingeleitet. Mit Hilfe des Landswirtschaftsministeriums wurden mehrere hundert Landwirtevereine 570gegründet und Lehrgänge organisiert. Ab 1905 wurden Fachexkursionen in Landwirtschaftsschulen, in sächsische Wirtschaften, zu Kecskeméter Gemüsebauern und in Viehzuchtanlagen organisiert. Heimindustrie-Unterricht, Volksbücherei und kostenlose Rechtsberatung sollten der breiten Aufklärung dienen. Am erfolgreichsten waren Zuchttiervermehrung und Weideverbesserung, also Dinge, deren Voraussetzungen im allgemeinen verstanden wurden.
569Tabelle 7. Die Bevölkerung nach Nationalitäten und Hauptberufsgruppen 1910 (Verdiener und Versorgte zusammen)
Hauptberufsgruppe
Ungarn
Rumänen
Deutsche
Sonstige Muttersprachen
Gesamt bevölkerung
in 1000
%
in 1000
%
in 1000
%
in 1000
%
in 1000
%
I.
Urproduktion
512
55,8
1245
84,6
134
57,3
30
55,6
1921
71.7
II/A.
Bergbau-Hüttenwesen
20
2,2
23
1,6
2
0,9
5
9,2
50
1,9
II/B.
Industrie
172
18,8
89
6,0
52
22,2
15
27,8
328
12,3
II/C.
Handel und Kredit
35
3,8
10
0,7
14
6,0
x
x
59
2,2
II/D.
Verkehr
39
4,2
10
0,7
3
1,2
x
x
52
1,9
II/A+B+C+D
266
20,9
132
9,0
71
30,3
20
37,0
489
18,3
III.
bürgerlicher und kirchlicher öffentlicher Dienst
52
5,7
23
1,6
12
5,1
x
x
87
3,2
IV.
Streitkräfte
11
1,2
9
0,6
4
1,7
x
x
24
0,9
V.
Tagelöhner
17
1,9
26
1,8
2
0,9
4
7,4
49
i,8
VI.
Hausgesinde
26
2,8
19
1,3
2
0,9
x
x
47
1,8
VII.
sonstige und unbekannte Berufe
34
3,6
18
1,1
9
3,8
 
x
61
2,3
Insgesamt
918
100,0
1472
100,0
234
100,0
54
100,0
2678
100,0
Verdiener
397
43,2
654
44,4
103
44,0
26
48,0
1180
44,1
Versorgte
521
56,8
818
55,6
131
56,0
28
52,0
1498
55,9
Bemerkung: Die x in den betreffenden Spalten bedeuten Werte unter 1000 bzw. unter 0,1 %.
Quelle: Magyar Statisztikai Közlemények. Új sorozat (Ungarische Statistische Mitteilungen, Neue Serie). Bd. 56
Die „Szekler Aktion” wurde auf Ersuchen mehrerer Komitate stufenweise ausgedehnt. Überragende Ergebnisse erbrachte sie nirgendwo, doch konnte perspektivisch eine Entwicklung in Gang gesetzt werden, da sie gewissermaßen den Rahmen und die Strukturen ersetzte, die die Gesellschaft des Dorfes zur Durchsetzung ihrer Interessen auf sich allein gestellt nicht mehr zu schaffen vermochte.

 

 

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