Die Haltung der Magyaren

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Die Haltung der Magyaren
Die politische Sonderstellung der Magyaren Siebenbürgens hatte in dem neuen System selbstverständlich keinen Platz mehr. Wer sich mit Politik beschäftigte, ging ganz in einer der großen Parlamentsparteien auf. Lange galt es als unpassend, Sonderinteressen – deren Existenz niemand leugnete – zu betonen, weil dies von der öffentlichen Meinung als Partikularismus gebrandmarkt wurde. Lediglich auf einem Umwege, auf der Grundlage des herrschenden Nationalismus und deshalb in verzerrter Form, konnte in Gestalt des Siebenbürgischen Ungarischen Bildungsvereins EMKE eine Institution entstehen, die (gemeinsam mit dem Siebenbürgischen Wirtschaftsverein) die Funktionen einer Provinzversammlung und eines lokalen ungarischen Regierungsorgans zu ersetzen versuchte. „Wenn wir auch unsere Politik gestaltende Rolle (aus der Fürstenzeit) verloren haben, so blieb doch ihr schönerer Teil erhalten, nämlich durch gesellschaftliche und individuelle Anstrengungen Gemeinwohl und Allgemeinbildung zu heben” – schrieb der Kolozsvári Közlöny (Klausenburger Anzeiger).*
Aus der Nummer vom 29. August 1884 des Kolozsvári Közlöny, zitiert in: Az EMKE megalapítása és negyedszázados működése 1885–1910 (Gründung und Tätigkeit eines Vierteljahrhunderts des EMKE 1885–1910). Kolozsvár 1910, 78.
604Der Bildungsverein begann seine offizielle Tätigkeit im Frühjahr 1885 mit dem Ziel, ungarische Sprache und Kultur zu verbreiten und gerade in Gebieten mit ungarischer Minderheit zu stärken. Dem Gebot der Zeit gemäß wählte man sich in der Person des Grafen Gábor Bethlen, des einstigen Garibaldisten, einen aristokratischen Präsidenten, der dann als Obergespan des Komitats Klein-Küküllő über eine zweiprozentige Komitats-Zusatzsteuer (10 000 Forint) für die Ziele des Bildungsvereins abstimmen ließ. Die Leitungen anderer Komitate versuchten sein Beispiel nachzuahmen, womit sie aber eine gewaltige Empörung auf Seiten der rumänischen und sächsischen Intelligenz auslösten. Der Schutz der ungarischen Minderheit war in einem ethnisch gemischten Land eine äußerst heikle Frage; der Gedanke einer Remagyarisierung einiger rumänisierter oder dafür gehaltener kleiner Gemeinden verletzte die Rumänen zutiefst, ebenso jene Forderung im Gründungsaufruf, daß sie von nun an nicht nur „ungarisch verstehen, sondern gemeinsam mit uns auch ungarisch fühlen sollen”.*
Ebd., 80
Die ganze Geschichte des Bildungsvereins beherrschte der zeittypische Widerspruch von schwungvoll phrasenhaftem Patriotismus und bescheidenen realitätsorientierten Aktivitäten. „Die Versäumnisse von Jahrhunderten” wollte man durch Magyarisierung aufholen, damit sich „die ethnographische Volksmasse des Szeklertums unter Anwendung der dafür geeigneten Mittel der Allgemeinbildung mit dem großen ungarischen Volksmeer der Tiefebene zusammenschließe“;* doch die finanziellen Mittel für sämtliche Pläne brachte man auf Wohlfahrtsbällen, durch kleine Spenden oder durch Sammlungen zusammen. Charakteristischerweise wurde 1888 ein nichtsiebenbürgischer Grundbesitzer mit seinen 20 000 Forint zum „ersten bedeutendsten Gründungsmitglied”, bis Graf Kocsárd Kun seinen Besitz von 2190 Morgen dem Verein zur Ansiedlung von Szeklern überließ. Statt dessen wurde jedoch auf dem Besitz eine Szekler Agrarschule errichtet, überdies fast ganz mit Mitteln des Landwirtschaftsministeriums, in dessen Hand sie deshalb auch verblieb. Ebensowenig wie aus dieser Ansiedlung wurde auch nichts aus der Magyarisierung.
Az EMKE 1893–1894. évi jelentése (EMKE-Jahresbericht 1893–1894). EMKE Értesítő, 20. Mai 1894.
Die sinnvolle Tätigkeit des Bildungsvereins begann zum kleineren Teil mit der sich jährlich auf 50–150 Forint belaufenden Unterstützung einzelner, ihr Leben kümmerlich fristender Pfarrer und Lehrer in den Gebieten mit ungarischer Minderheit und wurde fortgesetzt mit der Gründung von nahezu 300 Schulen, mehr als 200 Volksbüchereien und in späterer Zeit auch von Kindergärten.
Auf wirtschaftlichem Gebiet „besorgte” der Bildungsverein dem durch den österreichisch-ungarisch-rumänischen Zollkrieg ab 1886 belasteten Kleingewerbe zahlreiche Staatsaufträge. Er propagierte siebenbürgische Erzeugnisse, seine Leiter organisierten Ausstellungen, schrieben Denkschriften und bemühten sich um die Belange des Fremdenverkehrs. Eines der Hauptziele des Vereins war von Anfang an die Gründung einer großen Bodenkreditanstalt in Klausenburg, die aber mangels staatlicher Unterstützung ebenfalls erst später ermöglicht wurde. Anstelle der geplanten Bank zur Rettung der Grundbesitzer übernahm der Verein die Vermittlung von Besitzverkäufen 605und Kreditvergaben, er drängte auf Einrichtung von Kreditgenossenschaften. Er hatte einen bedeutenden Anteil an der Gründung der den Szekler Interessen dienenden Industrie- und Handelskammer in Neumarkt (1891) und des Siebenbürgischen Verbandes zur Unterstützung der Industrie.
Seine Tätigkeit wurde bis zum Schluß von der Antipathie der rumänischen und sächsischen Bürger begleitet, obwohl diese recht bald einsahen, daß er keineswegs die Kultur ihrer Nationen und noch weniger ihr Ethnikum gefährdete. Trotz seines wachsenden Vermögens und seiner zunehmenden Unterstützung verringerte sich die Bedeutung des Bildungsvereins nach der Jahrhundertwende. Seine ungarischen Kritiker versuchten ihn ganz auf die Wirtschaftsentwicklung als wichtigste Aufgabe festzulegen. „Wenn er mit seinem Geld nicht schnell der Wirtschaft zu Hilfe eilt, […] werden die vier Millionen Kronen des EMKE sehr schnell nur dafür ausreichen, einen Kranz für das Grab des ungarischen Siebenbürgen zu kaufen” – schrieb eine Wirtschaftszeitung zwei Jahre vor Ausbruch des ersten Weltkrieges.*
K. SCHANDL, A román bankok terjeszkedése (Ausbreitung der rumänischen Banken). Magyar Gazdák Szemléje 1909, II (Dezember-Nr.), 221 und weiter 1912, II (November-Nr.), 203.
Um die Jahrhundertwende befaßte sich jedoch auch die führende Schicht der ungarischen Politiker in Siebenbürgen nicht mit den langfristigen Gefahren, sondern hatte sich fest im dualistischen System etabliert, das mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und mit dem Ausbau des Staatsapparats selbst jene mitriß, die früher mit einer halben Unabhängigkeit Ungarns unzufrieden waren. Dem Beispiel der Siebenbürgischen Politiker in den Hauptgremien der Macht des Landes folgend, in denen sich diese zeitweise auch in den Parteien zur Siebenbürgischen Lobby vereinten, orientierte sich auch die gesamte Intelligenz gänzlich an Budapest. Publizisten und Schriftsteller schrieben mit Vorliebe für die hauptstädtischen Blätter, auch in der Akademie bildeten die Siebenbürger eine starke Gruppe. Zu einem zentralen Problem war allein die Szekler Frage geworden: Die ungünstigen Wirtschaftsbedingungen im Szeklerland und die Abwanderung blieben damals ein Gewissensproblem für das ganze Land, weil die notwendigen Mittel für eine Lösung innerhalb der gegebenen Struktur fehlten. Trotz der lokalen Probleme akzeptierte die Öffentlichkeit die starke Zentralisierung in der Meinung, daß „nur eine gut zentralisierte Administration den Interessen des Fortbestands von Szeklern und Sachsen dienen kann”.*
Bericht des Wiener deutschen Botschafters vom 9. April 1890. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn (PA AA Bonn). Österreich 92. No 6a, Bd. 3, A 4781.
Mit dem dualistischen System war eine spezifische Variante des bürgerlichen Staates entstanden. Es war liberal und modern genug, um die Kapitalakkumulation, den Kapitalzufluß und die Unternehmen zu fördern. Deshalb war es für das moderne Bürgertum akzeptabel, obwohl dieses trotz seiner wachsenden Bedeutung kaum an der politischen Macht Anteil hatte. Andererseits hatte das System genügend viel von den traditionellen Institutionen, dem feudalen Geist und seinen Methoden übernommen, damit die Grundbesitzerklasse, welche die Verbürgerlichung eingeleitet hatte, aber die Lenkung dieses Prozesses mit der Zeit abgeben mußte, und ihre Gefolgschaft in der Intellektuellenschicht ihren Einfluß bewahren konnten. Aus diesem Grunde war das dualistische System zur Gänze auch für die traditionelle herrschende Klasse akzeptabel. Seine halbmoderne politische und administrative 606Struktur war im Brennpunkt vielfacher Gegensätze entstanden. Von den Staatsbürgern war deshalb auch keine Identifikation mit dem System zu erwarten, und man begnügte sich damit, es als Realität zur Kenntnis zu nehmen.
In Abhängigkeit von der damaligen internationalen Lage entstand 1867 für das gesamte Ungartum eine Situation der Ungleichheit. Weil die prinzipielle Möglichkeit, die Nationalitätenfrage auf grundsätzlich anderen Wegen zu lösen, ausgeschlossen blieb, wurde die territoriale Integrität des Staates unter Einschluß Siebenbürgens zu einem Eckpfeiler des politischen Lebens. Die Erhaltung des historischen Ungarn war jedoch mit der Führungsrolle der aus dem Adel zusammengesetzten Herrenklasse verbunden, und dies akzeptierten die bürgerlichen Schichten der ungarischen Gesellschaft ebenso wie das ihre Sicherheit garantierende Reich Franz Josephs. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ausgleich war diese rationale Akzeptanz zum Dogma der politischen Existenz geworden. Abgesehen von ein bis zwei sehr Klarsichtigen oder eher Instinktsicheren rechnete niemand mehr mit der Möglichkeit, daß die Monarchie und mit ihr der historische ungarische Staat zerfallen könnten. Auch die für Gefahren sensibleren Siebenbürger bezwangen stets ihre immer wiederkehrende Sorge, Siebenbürgen verlieren zu können. Die Zeitungen berichteten abwechselnd von Fortschritten bei der Magyarisierung und vom „Vordringen der Nationalitäten”, während die Regierung – ebenfalls aus parteipolitischer Überlegung heraus – jene Angaben des Statistischen Zentralamtes als vertrauliche interne Information behandelte, denen zufolge an der ungarisch-rumänischen Sprachgrenze in Siebenbürgen „das Ungartum an der Grenze” zu Jahrhundertbeginn „auf der ganzen Linie schwere Verluste hinnehmen mußte”.*
Zuschrift des Ministerpäsidenten an den Kultus- und Unterrichtsminister vom 27. Mai 1908. OL, Miniszterelnökség (Ministerpräsidentenamt) 1908. XXV. 102.
Das System des Dualismus war eine Fallgrube: Es verlieh den ungarischen herrschenden Klassen ein falsches Sicherheitsgefühl und verschleierte alle Gefahren, die ihnen selbst wie dem historischen Ungarn drohten.

 

 

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