Orientierungskrise und neue rumänische Aktivität

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Orientierungskrise und neue rumänische Aktivität
In der Memorandum-Bewegung hatte die traditionelle rumänische Politik wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreicht. Für die Organisatoren der Aktion und die Schichten der Anhänger brachte sie eine moralische Genugtuung, aber sie bot weder eine Möglichkeit zur Beseitigung der Beschwerden noch eine Orientierung für den zukünftigen Kurs. Es vergingen Jahre, bis die Nationalpartei ihre Ideologie den veränderten politischen Bedingungen sowie den neuen Bedürfnissen des ebenfalls einem Wandel unterliegenden Intelligenz-Bürgertums der Rumänen anzupassen vermochte.
Diese Orientierungskrise setzte bereits ein, als die Parteiführer wegen der im Memorandum-Prozeß gefällten Urteile noch im Gefängnis saßen. Zwischen der Parteiführung und der radikaleren, um die Tribuna gescharten Jugend brachen Fraktionskämpfe aus, die 1896 dann auch einige der nach Bukarest Emigrierten erfaßten und die ideologischen Auseinandersetzungen verschärften.
Die politischen Kreise in Rumänien gaben den ersten Anstoß zur Ausarbeitung eines neuen Programmes. Die Tribunisten erarbeiteten im Einvernehmen mit der dortigen Liberalen Partei ein Programm, das einen Modus vivendi zwischen den Siebenbürger Rumänen und der Regierung als unumgänglich bezeichnete. Die Partei müsse ihre Passivität aufgeben und nach ihrer Rückkehr ins Parlamentsleben mit der Regierung einen Kompromiß 623schließen, indem sie im Tausch für ein günstigeres Wahlrecht auf ihre Forderung nach Autonomie Siebenbürgens verzichte. (Dies war ein Programm, das – wenn schon nicht als endgültige Regelung, so doch als Verhandlungsgrundlage – auch jede ungarische Regierung seit langem verlangte.) Die Tribunisten gaben 1897 eine neue Zeitung heraus (Tribuna Poporului), die nun nicht mehr in Siebenbürgen, sondern im engeren Ungarn, in Arad erschien. Hier gab es ein starkes, die Passivität stets ablehnendes rumänisches Parteileben auf Komitatsebene mit einem ansehnlichen großbäuerlichen Hintergrund. Der rumänische Bevölkerungsanteil belief sich in Arad zwar nur auf 15 % und lag damit hinter Kronstadt; doch in Arad verfügten die Rumänen über einen Bischofssitz, ein Priesterseminar und über ihr zweitgrößtes Kreditinstitut, die Viktoria-Bank.
Die neue Aktivität konnte jedoch nicht von dem Führungsgremium der Arader ausgehen, das zu weit vorausgeeilt und den Bukarester Liberalen zu sehr verpflichtet war. Vielmehr machte sich die über den Fraktionen stehende, über eine eigene materielle Basis verfügende neue Schicht, die moderne Bourgeoisie der nationalen Mittelklasse, das Program von Arad zu eigen und paßte es dem traditionellen Parteirahmen an. 1902 verkündete Ioan Mihu, ein Großgrundbesitzer und Bankdirektor, in der neuen Zeitung Libertatea die Revision des Programmes von 1881: die Annahme des Dualismus und die Aufgabe der Forderung nach der Autonomie Siebenbürgens, die Entwicklung einer detaillierteren nationalen Kulturpolitik und einer Sozialpolitik. Ein junger Rechtsanwalt, Iuliu Maniu, erarbeitete das Aktionsprogramm für den Aufbau der Partei in der Provinz, der Komitatspolitik und der modernen Pressepropaganda. Im Sommer 1903 ließ sich Rechtsanwalt Aurel Vlad in Hunyad bei Zwischenwahlen ohne Erwähnung der Autonomieforderung zum Abgeordneten der Nationalpartei wählen.
Die Ernennung von Graf István Tisza, der als Mann des Hofes galt, zum Ministerpräsidenten im Herbst 1903 nahmen die Ungarn mißtrauisch, die Rumänen und Sachsen wiederum mit ernsthaften Erwartungen zur Kenntnis. Tisza hatte der rumänischen Frage seit Beginn seiner Laufbahn große Bedeutung beigemessen und eingesehen, daß die Bande der Rumänen zu ihren im unabhängigen Königreich lebenden Brüdern und Schwestern unzerreißbar waren. Im Interesse einer Stärkung des Vielvölkerstaates Ungarn (und der Monarchie) war er um eine Verständigung mit den Rumänen bemüht, die die zahlenmäßig stärkste Nationalität darstellten. In seiner Antrittsrede bezeichnete es der Ministerpräsident als wichtige nationale Aufgabe, „das Vertrauen, die Sympathie der nichtmagyarischen Bürger des Landes zu gewinnen und zu festigen”, gepaart mit der Bemühung, die gemäßigte oder zur Zusammenarbeit geneigte Schicht von den „gefährlichen Aufwieglern“* zu trennen. Mit den sächsischen Führern konnte er sich schnell einigen, so daß diese wieder der Regierungspartei beitraten; der linke Flügel der rumänischen Aktivisten, die Arader wiederum unternahmen – in den Äußerungen Tiszas ihre eigene Politik bestätigt sehend – einen erneuten Annäherungsversuch. Ihre Zeitung deklarierte in einem hervorgehobenen Text: „Ohne Bedingungen und Hintergedanken erkennen wir die Einheit des ungarischen Staates an, 624sind wir bereit, unser Blut und Vermögen für diese politische Einheit, für die Erhaltung der unversehrten territorialen Integrität des ungarischen Staates zu opfern, solange dieser Staat durch starke und unanzweifelbare Institutionen die Entwicklungsmöglichkeiten auf der Grundlage unserer nationalen ethnischen Eigenheiten garantiert. Wir tun das aus der Überzeugung heraus, daß die Existenz eines stabilen Habsburgerstaates in Mitteleuropa eine stärkere Garantie für die Existenz unserer rumänischen Nationalität ist als ein Rumänien ohne den Habsburgerstaat, das alle Rumänen von Dacia Trajana vereinen würde. Das ist unsere Antwort auf die Äußerungen Graf István Tiszas.“* Der größere Teil der rumänischen Parteiführer begegnete Tisza jedoch mit Mißtrauen, da dieser ohnehin die Lösung der bisher beispiellosen Parlamentskrise als dringendste Aufgabe betrachtete und deshalb sehr bald zu Zugeständnissen an die Unabhängigkeitsopposition gezwungen werden würde. Und so hat gerade die Tisza-Regierung, statt Friedensversuche zu unternehmen, Pläne zur Begründung einer staatlichen Lenkung aller Nationalitätenschulen geschmiedet. Gegen den im Oktober 1904 vom Kultusminister Albert Berzeviczy eingereichten Vorschlag protestierten alle Nationalitäten geschlossen, während die auf einer stärkeren staatlichen Einmischung bestehende ungarische Opposition ihn für unzureichend hielt. Im Laufe seiner Parlamentskampagne zog Tisza dann aber aus taktischen Gründen alle eingereichten Gesetzentwürfe wieder zurück.
Graf István Tiszas Programmrede als Ministerpräsident. Gróf Tisza István képviselőházi beszédei (Graf István Tiszas Parlamentsreden). Eingeleitet und mit Notizen versehen von J. KUN. Budapest 1935, Bd. II, 15–64.
Contele Tisza István (Graf István Tisza). Tribuna Poporului, 10. November 1903.
Die rumänische Bewegung sah die Bedeutung der ersten Regierung István Tiszas in jenen Mäßigung zeigenden Gesten, die schon die einen Ausgleich anstrebende Politik der 1910er Jahre andeuteten. Tisza wies seine Obergespane an, die Rumänen nach Möglichkeit in das gesellschaftliche und politische Leben einzubeziehen, er vermied Presseprozesse fast gänzlich, ließ die rumänische Intelligenz eine Versammlung gegen den Berzeviczy-Plan abhalten, gab ihrem Hermannstädter Kulturverein ASTRA jenen Geldfond (mit den inzwischen angefallenen Zinsen) zurück, der einst für die Avram-Iancu-Statue rechtswidrig geschaffen und von Bánffy beschlagnahmt worden war, und anderes mehr. Erstmals seit langer Zeit wurde angedeutet, daß mit einzelnen angesehenen rumänischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Verhandlungen eingeleitet werden könnten; doch indessen hatte die parlamentarische Opposition ihre Kräfte vereinigt und erzwang sehr bald den Sturz Tiszas.
Am Vorabend der Wahlen, im Januar 1905, veranstaltete die rumänische Nationalpartei nach elfjähriger Pause erstmals eine Konferenz in Hermannstadt. Das durch die jüngere Generation angenommene neue Programm formulierte als neue Zielsetzung statt der Autonomie Siebenbürgens „die Anerkennung der staatsgründenden politischen Individualität des rumänischen Volkes, die Sicherung seiner ethnischen und verfassungsmäßigen Entwicklung durch staatsrechtliche Institutionen“* und forderte die Durchführung des Nationalitätengesetzes von 1868, die Selbstverwaltung der entsprechend der Sprachgrenzen zu bildenden Verwaltungsgebiete, die Einführung des allgemeinen und geheimen Wahlrechtes sowie einer bescheidenen Sozialpolitik.
Das Wahlprogramm von 1905, mitgeteilt von T. V. PĂCĂŢIAN, Cartea de aur VIII. (Das Goldene Buch). Sibiu 1915, 169–172; G. G. KEMÉNY, a.a.O., Bd. IV, 534–536.
625Die neue Etappe des mit konstitutionellen Mitteln geführten politischen Kampfes begann für die rumänische Nationalbewegung mit einem unheilverkündenden Vorzeichen: Anstelle der erhofften 40 errang sie nur 8 Mandate, obwohl der behördliche Druck geringer als üblich gewesen war. Die Bildung einer ins Gewicht fallenden Parlamentsfraktion war damit mißlungen.
Die Wahlen von 1905 zogen jedoch nicht nur den Sturz Tiszas nach sich. Erstmals seit vier Jahrzehnten stimmten die Wähler mehrheitlich für die ungarische Opposition, in der Hoffnung, sie werde die Bande des Landes zu Österreich lockern und die Unabhängigkeit Ungarns anstreben. Mit dem Wahlsieg der sog. Koalition beginnt auch eine neue Orientierungsphase der Nationalitäten.

 

 

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